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Johanna Spyri – Kritikerin ihrer Zeit

28.06.2019
von Sonya Jamil

Heidi, Heidi, deine Welt sind die Berge… Die Geschichte des Schweizer Alpenmädchens lässt weltweit die Herzen höher schlagen. Und das dank der Schriftstellerin Johanna Spyri. Ein Porträt über eine verschlossene Frau mit grossem Einfluss.

Die Geschichte rund um Heidi, ihren Grossvater und ihre Freunde Peter und Klara machten Johanna Spyri weltberühmt. Doch es blieb nicht ihr einziges Werk. Mithilfe ihrer Bücher wollte die Schriftstellerin über die Notstände auf der Welt aufklären und ihre Leserschaft erziehen. Die Lesenden wurden in eine fiktive Welt entführt, genauso wie Johanna Spyri durch das Schreiben lernte, ihre Probleme in der Realität zu bewältigen. Wie «Hannis» Welt wohl aussah?

Leben, Leiden, Leidenschaft

Johanna Louise Spyri, gebürtige Heusser, wurde am 12. Juni 1827 in der kleinen Landgemeinde auf dem Hirzel, oberhalb des Zürichsees geboren. Sie war das vierte von sechs Kindern. Ihr Vater Johann Jakob Heusser war Arzt, ihre Mutter Meta Heusser–Schweizer war Dichterin. Mit 15 Jahren zog Johanna Spyri zu ihrer Tante nach Zürich und besuchte dort die Schule, bis sie als 16-Jährige nach Yverdon in ein Internat ging und dort Französisch lernte. Zwei Jahre später zog sie wieder nach Hause, wo sie bis zu ihrem 25. Lebensjahr ihre jüngeren Geschwister unterrichtete und ihrer Mutter im Haushalt unter die Arme griff. Während dieser Zeit widmete sich die Mittzwanzigerin ihrer Lieblingsbeschäftigung: lesen, lesen und nochmals lesen.

1852 heiratete die junge Frau den Jurist und Redaktor Bernhard Spyri. Die Ehe der beiden war jedoch keine glückliche: «Jetzt isst man gar nichts mehr bei uns, heut am Mittagstisch las mein Mann so stramm seine Zeitung, dass er das Essen vollständig vergass, und
ich hatte von Anfang an schon genug», heisst es in einem Zitat von Johanna Spyri. Ihr Ehemann arbeitete viel, liess sie dementsprechend oft alleine daheim zurück und zeigte ihr gegenüber kein grosses Interesse. Spyri fühlte sich in der Rolle der Hausfrau unwohl. Drei Jahre nach der Hochzeit kam ihr einziges Kind Bernhard Diethelm zur Welt. Während der Schwangerschaft geriet Johanna Spyri in eine tiefe Depression, die jahrelang anhielt. Einzig die Freundschaft mit Betsy Meyer, der Schwester von Dichter Conrad Ferdinand Meyer, gab ihr
Halt. Ihr schrieb sie lange Briefe: «Liebe Betsy, findest Du wohl Zeit, mir einige Worte zu sagen? Ich harre mit Sehnsucht darauf; lass mich nicht zu langeallein ohne Dich. Du weißt die Lücke, die Du mir machst.»

Die Anfänge als Schriftstellerin

1868 wurde Spyris Mann Stadtschreiber von Zürich. Dies führte dazu, dass Johanna Spyri von nun an Frau Stadtschreiber war. Zum Schreiben kam sie auch; ermutigt durch einen Pfarrer, der mit ihrer Mutter befreundet war. 1871 erschien ihre erste Erzählung «Ein Blatt auf Vronys Grab». Es geht darin um eine Frau, die von ihrem alkoholsüchtigen Mann misshandelt wird und sich betend ihrem Schicksal fügt. Nicht unbedingt ein Werk, welches im Kinderzimmer vorgelesen wird. Keines ihrer weiteren Werke war je wieder so dramatisch, auch wennihre Geschichten nichts beschönigten. Ihre Protagonisten kamen immer aus zerrütteten Familien. Später wurden sie zu emotional angeschlagenen Erwachsenen. Laut Johanna Spyri hilft da nur beten. Spyris erstes Kinderbuch trug den Namen «Heimathlos». Ihr Name war auf dem Buchumschlag nicht angegeben, es hiess lediglich «Von der Verfasserin von ‹Ein Blatt auf Vrony’s Grab›». Ihre früheren Erzählungen wurden ebenfalls nicht mit ihrem vollen Namen, sondern mit den Initialen J.S. herausgegeben.

Erfolg mit «Heidi»

Kurz vor Weihnachten 1879 erschien beim Verlag  F. A. Perthes in Thüringens Gotha «Heidis Lehr- und Wanderjahre». Ein sofortiger Kassenschlager. Drei Jahre später folgte der zweite Band «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat». Die Geschichte des liebenswerten Alpenmädchens wurde in über 50 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. Zuletzt 2015 mit Anuk Steffen in der Hauptrolle. Egal ob als Buch oder Film, Comic oder Serie, in Japan oder in der Türkei: «Heidi» eroberte die Welt im Sturm. Noch heute wird die Figur «Heidi»
für Werbezwecke verwendet und symbolisiert das Bild der idyllischen Schweiz.

Spyri fühlte sich in der Rolle der Hausfrau unwohl.

Die letzten Lebensjahre

1884 starb Johanna Spyris Sohn Bernhard an Tuberkulose. Im selben Jahr starb auch Spyris Ehemann. Die Heidi-Schöpferin war nun kinderlos und verwitwet. Sie schrieb jedoch weiterhin Kindergeschichten und reiste viel. Sie versuchte, sich in ihren Erzählungen in die Gedanken- undGefühlswelt ihrer jungen Leser hineinzuversetzen. Die Geschichten sind geprägt vom Humor und der Frömmigkeit der Schriftstellerin. 1901 erkrankte Johanna Spyri an Krebs. Sie liess sich von Marie Heim–Vögtlin, der ersten Schweizer Ärztin, behandeln. Am 07. Juli desselben Jahres erlag sie ihrer Krankheit im Alter von 74 Jahren. Ihr Grab befindet sich in der Stadt Zürich auf dem Friedhof Sihlfeld.

Johanna Spyris Nachlass

Bis zu ihrem Tod veröffentlichte Spyri 31 Bücher. Ihr Nachlass wurde zuerst im Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) in Zürich aufgehoben; im Herbst 2011 übernahm die Zentralbibliothek Zürich die 1 000 Briefe sowie ihre Manuskripte, Dokumente und Notizen.

Aus Spyris ehemaliger Schule in Hirzel wurde ihr zu Ehren 1981 ein Museum. Besucher dürfen hier in Johanna Spyris Büchern schmökern, einen Einblick in eine Schulstunde um 1840 gewinnen und Originalobjekte aus Spyris Zeit bestaunen. Die Ausstellung beleuchtet umfassend das Leben der Schweizer Schriftstellerin. Das Museum feiert im Sommer 2019 Johanna Spyris 192. Geburtstag.

«Eine Geschichte für Kinder und auch für solche, welche die Kinder lieb haben.» Dieser Satz ist in fast jeder Ausgabe von Johanna Spyri vermerkt. Die in sich gekehrte Schriftstellerin liess ihre Leser durch die niedergeschriebenen Worte an ihrer Welt teilhaben. In ihren Werken spiegeln sich die Umstände des 19. Jahrhunderts. Deshalb sind ihre Texte nicht nur literarisch, sondern auch sozialgeschichtlich gesehen, von grossem Interesse. Der Spirit von Johanna Spyri lebt durch ihre Bücher ewig weiter.

Ein weiteres spannendes Porträt einer aussergewöhnlichen Frau gibt es hier.

Text: Sonya Jamil

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