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Deutschland Mobilität

Das Glück der Mikromobilität

02.09.2021
von Rüdiger Schmidt-Sodingen

Mikromobilität in Form von Leihrollern ist aus den Metropolen nicht mehr wegzudenken – auch wenn viele Städte für eine neue Mobilität abseits des Autofahrens noch neue Regulierungen und Planungen benötigen.

Ordnungsfanatiker setzen ein verächtliches Grinsen auf, wenn sie mitten in der Stadt, vor Grünanlagen oder U-Bahn-Stationen, über schief und quer liegende Roller stolpern. Hoppla. Steht dieses wilde Durcheinander etwa für die Mobilität der Zukunft, wo niemandem mehr etwas gehört und man fahrbare Untersätze nur noch minutenweise mietet?

Die Antwort lautet: Ja und Nein. Denn natürlich wird das Durchqueren der Stadt, sei es für längere oder kürzere Zeit, in diesen Tagen neu geordnet. Erste Innenstädte sind bereits autofrei, und die derzeitige, noch immer nicht überwundene Coronapandemie spielt den Plänen von Share-Economy-Anhängern und Fahrradlobbyisten in die Hände – oder besser in die per Strom oder Beinkraft betriebenen Räder.  

So verkündete Londons Bürgermeister Sadiq Khan mitten in der ersten Welle der Pandemie: »Covid-19 wird die Art und Weise, wie wir in unserer Stadt unterwegs sind, grundlegend verändern. Aus diesem Grund geben die Londoner Transportbetriebe und ich unsere Pläne bekannt, das Zentrum von London zu einer der größten autofreien Zonen aller Weltstädte zu machen, das Gehen und Radfahren umfassend zu fördern und unsere Luftqualität dadurch zu verbessern.«

Durch »die Ruinen der Zukunft«

Dass besonders Megacitys und Touristenmetropolen, die derzeit das Wort Touristen streichen müssen, ihre Räume entschleunigen und damit entstauben wollen, liegt auch an den gesellschaftlichen Debatten um Mieten und Nachhaltigkeit. Jetzt, wo die ersten Geschäfte verschwunden sind, müssen die Menschen wieder in die Stadt gelockt werden. Das geht nur mit Muße und Entschleunigung, zündenden Verweil- und auch Wohnkonzepten, die das neu beleben, was die Frankfurter Allgemeine Zeitung kürzlich »die Ruinen der Zukunft« nannte, also die sich auflösenden Geschäftsstraßen. 

Beim Bewegen durch die Stadt werden das Ankommen und Erkunden im Vordergrund stehen, nicht das Besitzen eines wie auch immer gearteten Mobilitätsgeräts, das einzelne Personen mit Lärm und Staub möglichst schnell von A nach B bringt. Die Politik weiß: Die Mobilität ist womöglich der Hebel, um Sharing-Konzepte auch in andere Bereiche der Gesellschaft zu tragen. So gibt es erste Initiativen, die »unter dem Begriff Quartier die Planung von Baumaßnahmen in größeren Bedeutungszusammenhängen verstehen«, wie es das Fachmagazin Wohnwirtschaft Heute bereits 2018 ankündigte. Wohn- und Lebensräume würden gemeinsam gedacht und mündeten ins sogenannte Co-Living.

Zauberwort Mikromobilität

Fabian Edel vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation ist spezialisiert auf Mikromobilität und innovative Produktentwicklung. Ende 2019 zog er unter dem Titel »Elfte Plage oder Hoffnungsträger für die Mobilitätswende?« ein erstes Zwischenfazit zu E-Scootern in den deutschen Innenstädten. Auch wenn die E-Scooter aktuell nur auf fünf Einsätze am Tag kämen, bestehe dennoch ein immenses Potenzial. Besonders das Ziel »Fahrten mit dem PKW durch die geeignete Kombination von E-Scootern mit dem öffentlichen Nahverkehr zu ersetzen«, sei ein erster Baustein »zu einer neuen, nachhaltigen, elektrischen Mobilität im urbanen Raum, mit einem enormen Ausbaupotenzial«. Problematisch sieht Edel, dass E-Scooter vor allem an den »urbanen Randgebieten«, wo sie von Pendlern am meisten gebraucht würden, um etwa eine längere Weiterfahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu ermöglichen, kaum verfügbar seien.  

Mit 3000 Elektro-Rollern hat der Anbieter Emmy in Hamburg, München, Berlin, Düsseldorf, Stuttgart und Wien für Vespa-Fans aber bereits die nächste Stufe der innerstädtischen Sharing-Konzepte gezündet. Nach der Anmeldung via App verifiziert man seinen Führerschein und kann im sogenannten Geschäftsgebiet dann einen Roller minuten- oder tageweise mieten und wieder abstellen. Jeder Roller ist mit zwei Helmen, hygienischem Helmschutz und einer Handyhalterung ausgestattet. Die zwei Berliner Gründer Alexander Meiritz und Valerian Seither frohlocken denn auch: »Wir glauben an die Zukunft der urbanen Mobilität, ohne ein Fahrzeug zu besitzen.« 

Einbindung von Kommunen und Industrie

Um die Mikromobilität tatsächlich bis in die Vororte und dafür dann die stadtflüchtigen Bewohner:innen wieder zurück in die Innenstadt zu tragen, bedarf es zweifellos einer Einbindung der Kommunen, um nötige Regulierungen durchzuführen oder auch Stadtzentren in Segmente oder Blocks aufzuteilen, in denen Fußgänger und Fahrradfahrer Vorrang haben und spezielle Parkplätze vorhanden sind. Aber auch die Industrie ist gefragt, um Sharing-Fahrzeuge langlebiger zu machen, etwa durch Einsatz besserer und trotzdem recycelbarer Materialien.  

Der E-Rowdy, der lieber mit dem SUV gekommen wäre, ist also möglicherweise nur ein Produkt der jetzigen Übergangszeit. Denn die Chancen und Folgen einer perfekt planbaren Mikromobilität, die öffentlichen Verkehr mit kurzen Fahrten auf Sharing-Mobilen für die erste oder letzte Meile kreuzt, können gewaltig sein. Entlang von Zwischenstopps oder Zwischenstrecken können neue Geschäfte oder auch Treffpunkte entstehen, die den Sinn der Mobilität völlig neu oder gar ursprünglich definieren. Aus dem Fahren zur Arbeit oder nach Hause wird die Verbindung unterschiedlicher Punkte zum Genießen, Sehen, Nutzen und Kennenlernen der näheren Umgebung. 

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