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Gerichtskosten dürfen nicht unerschwinglich sein

17.04.2019
von SMA

Recht haben heisst noch lange nicht, Recht bekommen. In der Schweiz wird diese Diskrepanz immer grösser. Seit im Jahre 2011 die Schweizerische Zivilprozessordnung eingeführt wurde, haben die Richter der klagenden Partei massiv höhere Vorschüsse abverlangt.

Ein Kläger muss kurz nach Einleitung der Klage meist innert zehn Tagen einen massiven Kostenvorschuss bezahlen. Bei einer Klage über CHF 30 000 sind das häufig mehr als CHF 5000. Von einem schwerverletzten Kind, welches nun erwachsen ist, hat das Regionalgericht Oberaargau-Emmental kürzlich bei der Klage auf Ausgleich der lebenslang zu erwartenden Einbussen einen Vorschuss von CHF 144 000 verlangt. Hallo!?

Und dann sind da noch die Anwälte, die für ihre Arbeit auch nicht kleinlich entschädigt werden möchten. Eine Klageschrift für ein Unfallopfer mit dauerhaften gesundheitlichen Schäden zum Beispiel umfasst kaum weniger als 50 Seiten. Denn, was nicht minuziös beschrieben oder behauptet wird und sich erst aus dem Beweisverfahren ergibt, berücksichtigt der Richter in seinem Urteil nicht. Der Gegenanwalt bestreitet alle Punkte mit der gleichen Akribie, worauf der Richter in der Regel einen zweiten Schriftwechsel anordnet. Nachdem sich die Parteien dann noch detaillierter über alle Rechtsfragen und Sachumstände äussern, liegen in diesem Verfahrensstadium Anwaltsschriften im Umfang eines voluminösen Sachbuches vor. Bis dahin sind seit der Klageeinleitung meist etwa zwei Jahre verstrichen.

Lange Verzögerungen

Wird in der Folge ein gerichtliches Gutachten zum Beispiel über den Gesundheitszustand oder die mutmassliche berufliche Entwicklung eingeholt, so verlangt das Gericht von den Parteien den nächsten Vorschuss im fünfstelligen Betrag. Die renommierte Gutachterstelle des Universitätsspitals Zürich hat für Gutachten aus mehreren Fachrichtungen auch schon Rechnungen über CHF 60 000 gestellt. Die Bestimmung des Beweisthemas, das Beauftragen einer beiden Parteien genehmen Gutachterstelle, das Erstellen des Gutachtens und die Beantwortung von Ergänzungsfragen der Parteien und des Gerichts, beanspruchen regelmässig ein weiteres Prozessjahr. Der Umstand, dass zwischenzeitlich mindestens einmal der federführende Gerichtsschreiber gewechselt hat, verzögert die Sache zusätzlich.

Das ca. 80 – 100-seitige medizinische Gutachten, als Beispiel, liegt nun mit all seinen Ergänzungen vor. Die Anwälte sollten dazu, ebenfalls nicht zu kurz gefasst, Stellung nehmen. Danach prüft der Richter vielleicht, ob er jetzt, was bestimmt mehr Sinn macht, die Parteien nochmals zu Vergleichsgesprächen einladen möchte. Hält er solches oder das Abnehmen von weiteren Beweisen (Zeugen, unfalltechnische Analysen, Berufsgutachten etc.) nicht für nötig, so erlässt er ein Urteil. Er instruiert seinen Gerichtsschreiber. Mit ein bisschen Glück für die Parteien eröffnet er ein halbes Jahr später das schriftliche Urteil.

Vielleicht besteht ja noch Hoffnung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Sache positiver beurteilt.

Kein Prozessende in Sicht

Im echten Leben – anders als in den meisten amerikanischen Fernsehserien – gibt es vor Gericht nur selten Recht und Unrecht oder Gewinner und Verlierer. Weil gemäss Urteil beide Parteien Abstriche machen müssen, ist die Gefahr gross, dass eine oder beide Parteien Berufung gegen das Urteil einlegen. Der Leser ahnt jetzt bereits, dass dabei die Gerichte und Anwälte den Rechtssuchenden erneut erhebliche weitere Vorschüsse abverlangen. Weniger bekannt ist wohl, dass die Urteile der kantonalen Obergerichte und des Bundesgerichts mehrheitlich nicht zu einem Prozessende führen. Weit häufiger wird die Sache nämlich an das Bezirksgericht zurückgewiesen, weil weitere Sachverhalte abzuklären, neue Gutachten einzuholen oder die Schadenersatzleistungen neu zu berechnen sind. Mit anderen Worten also, zurück auf Feld eins!

Geht nicht einer Partei die Geduld, der Schnauf oder das Geld aus, so vergehen weitere Jahre und es verfliessen weitere Unsummen an Prozess- und Anwaltskosten, bis irgendwann das Bundesgericht das letzte Wort gesprochen hat. Oder doch nicht? Vielleicht besteht ja noch Hoffnung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Sache positiver beurteilt. Beschwerden werden zwar in den allerwenigsten Fällen (weniger als 3 Prozent) gutgeheissen; die Prozessdauer beträgt weitere vier bis sechs Jahre. Wer aber diesen Test besteht, der hat das Glück (?), dass die Sache neu aufgerollt wird.(so geschehen im Fall der Angehörigen des Asbestopfers Moor gegen die Schweiz im März 2014). Er steht nun wieder vor dem Bezirksgericht, also vor der Instanz, vor der der Streit zehn Jahre früher eingeklagt wurde.

Komplexe Auseinandersetzungen

Nun treffen diese Rechtsbarrieren anscheinend nur wenige Menschen und viele betonen gerne, dass sie noch nie einen Anwalt benötigten. Bei Alltagsgeschäften und in der Wirtschaftswelt kann man sich immerhin durch Vorsicht und Treffen von klaren Vereinbarungen gegen grössere Überraschungen erwehren. Verunfallte Personen zum Beispiel, die plötzlich ihre Gesundheit, ihren Job, ihr Einkommen verlieren, brauchen aber Fürsprecher und Instanzen, die ihre Rechte gegen andere Verkehrsteilnehmer, gegen die Verursacher, gegen die Privat- und Haftpflichtversicherungen verteidigen. Sie verfügen häufig nur über geringe finanzielle und gesundheitliche Ressourcen und verzweifeln an langwierigen und komplexen rechtlichen Auseinandersetzungen.

Weniger dramatisch ist es für Mittellose, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben. Sie gelangen in den Genuss der unentgeltlichen Rechtspflege. Das heisst, dass sie keine Gerichtskosten zu bezahlen haben und ihnen ein Rechtsvertreter zur Verfügung steht. Jene, die über eine Rechtsschutzversicherung verfügen, haben geringere Risiken. Solange ein Prozess nicht aussichtslos erscheint, deckt die Versicherung die Anwalts- und Gerichtskosten. Deckungssummen von häufig bis CHF 250 000 für einen Rechtsfall setzen aber auch rechtsschutzversicherte Personen der Gefahr aus, dass am Ende doch Kosten anfallen oder Prozesse vorzeitig beendet werden müssen. Hinzu kommt, dass die schwarzen Schafe unter den Rechtsschutzversicherungen praktisch jeden Streit als aussichtslos beurteilen, damit sie nicht zahlen müssen.

Fazit ist, dass – ohne Police bei einer seriösen Rechtsschutzversicherung – der gesamte Mittelstand sich einen Prozess nicht leisten kann und selbst gutsituierte Personen sich aufgrund der Risiken und der langen Prozessdauer gegen Prozesse entscheiden werden.

Die Richter sollen die Entscheide auf Basis der Fakten, des Sachwissens von Experten und ihrer eigenen Lebenserfahrung fällen.

Was nun?

Heisst das nun: Kopf in den Sand stecken und zusehen, wie einem die Rechte die Limmat, die Aare, die Reuss oder den Rhein hinunter treiben? Wir sagen nein! Unser Motto ist: Nicht Jammern, sondern (dennoch) klagen!

Es empfiehlt sich, frühzeitig Rat bei spezialisierten und erfahrenen Anwaltskanzleien zu suchen. Der Sachverhalt soll exakt abgeklärt werden. Danach sind die relevanten Rechtsfragen zu klären und auf dieser Basis sind optimale Lösungen mit den Gegenparteien oder den Versicherungen zu suchen. Denn wenigstens eines ist gewiss. Auch die beklagte Partei und deren Versicherung zahlt im Prozess einen hohen Preis und auch sie möchte die Sache irgendwann ad acta legen.

Tiefere Kosten sind das Ziel

Und weil jedes Volk seinen Herrscher verdient, verdienen vielleicht auch wir nur die Zivilprozessordnung, die uns der Gesetzgeber vorsetzt. Der Bundesrat ist jetzt immerhin daran, die Praxistauglichkeit der noch acht Jahre jungen Schweizerischen Zivilprozessordnung zu prüfen. Es sieht aber aus, als würden nicht viel mehr als kosmetische Eingriffe vorgeschlagen; dazu gehört zum Beispiel die Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse ohne aber die Gerichtskosten generell zu senken. Wir setzen uns zusammen mit dem Verband der demokratischen Juristen dafür ein, dass man die Gerichtskosten massiv senkt und die Verfahren effizient gestaltet und verkürzt.

Gleichartige Fälle von Opfern sollen gemeinsam eingeklagt werden können. (z.B. nach Katastrophen oder Massenunfällen oder betroffene Konsumenten beispielsweise von mangelhaften Medikamenten, Implantaten, Fahrzeugen oder Finanzprodukten). Wir verlangen den Abbau von Hindernissen und Formalitäten und dass an den Beweis nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden. Die Richter sollen die Entscheide auf Basis der Fakten, des Sachwissens von Experten und ihrer eigenen Lebenserfahrung fällen.

Es ist nicht so, dass wir nicht gerne seitenfüllende Prozessschriften schreiben. Aber wir sind der Meinung, dass kürzere Rechtsschriften, geringere Kosten, raschere Prozesse und pragmatische Lösungen allen dienen.

Text: Martin Hablützel, Schadenanwalt

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